Biomechanisches Messsystem
Körperliche Arbeiten: Belastungen messbar machen
Berufe bei kommunalen Arbeitgebern bilden keine Ausnahme: Viele Tätigkeiten sind körperlich schwere Arbeit. In unserer Ausgabe UV aktuell 1/2024 stellten wir das neue biomechanische Messsystem INDUSTRIAL ATHLETE (IA) vor, das zur Messung körperlicher Belastungen dient. Welche neuen Erkenntnisse gibt es inzwischen über die Einsatzmöglichkeiten und den Nutzen des Systems für die Gefährdungsanalyse und Prävention?
Autor: Robert Havlik, Sicherheitsingenieur und Fachkraft für Arbeitssicherheit bei der Landeshaupstadt München.
Seit Sommer 2022 ist es bei der Landeshauptstadt München im Einsatz: INDUSTRIAL ATHLETE (IA) wurde unter der Prämisse beschafft, die Gefährdungsbeurteilung körperlich beanspruchender Tätigkeiten möglichst einfach und effizient durchzuführen – im Vergleich zur aufwändigen Anwendung der Leitmerkmalmethoden (LMM).
In unserem letzten Bericht in der Ausgabe 1/2024 haben wir das System mit seiner Hard- und Software vorgestellt und einige unserer bisherigen Einsätze näher beschrieben.
Jetzt möchten wir Aufwand und Nutzen des Systems sowie dessen Grenzen aus unserer Sicht darstellen. Dabei werden sowohl die Vorteile als auch die Nachteile, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Anwendung des biomechanischen Messsystems gegenüber den Leitmerkmalmethoden (LMM) als reine Beobachtungsmethode aufgezeigt.
Aufwand und Herausforderungen einer Messung – und die Logistik dahinter
Im Messbetrieb hat sich schnell herausgestellt, dass für eine störungsfreie Aufzeichnung von Motion Capturing Daten mit eingebettetem Videostream zwingend eine externe Stromversorgung erforderlich ist. Der Akkubetrieb unserer (Hochleistungs-)Laptops genügt nicht. Ohne den Einsatz von Stromerzeugeraggregaten wären Messungen in Parkanlagen etc. unmöglich gewesen. Eine Messung benötigt immer eine Abstellmöglichkeit für den Laptop und die Funkstation, wozu in unserem Fall ein Campingtisch diente. Dieser Messplatz kann nur stationär betrieben werden. Es ist nicht möglich, einem Probanden zu folgen, was im Vorfeld einer Messung bedacht werden muss. Der größte Abstand zwischen Messplatz und dem Probanden betrug bei unseren Anwendungen ca. 15 Meter. Auf diese Distanz haben die Funksensoren verlässlich funktioniert. Innerhalb von Gebäuden kann nur in einem Raum gemessen werden, nicht jedoch durch Wände hindurch, da hierbei die Funkverbindung abbricht. Die Folge ist ein Neustart der Messung.
Am Anfang jeder Messung steht (nach dem Stationsaufbau) das Anbringen der Funksensoren am Körper des Probanden, gefolgt von deren Kalibrierung. In der Praxis zeigte sich, dass die Kalibrierung ein kritischer Teilvorgang der Messung ist, den wir oft mehrmals durchführen mussten, bis wir ein gutes Ergebnis erzielen konnten. Nur mit einem guten Kalibrierungsergebnis ist die korrekte und synchrone Lage, Ausrichtung und Bewegung der Gliedmaßen des Avatars gewährleistet. Es hat sich zudem bewährt, diesen Teilvorgang vor der eigentlichen Messung mit dem Probanden bereits einmal zu üben. So verlieren wir in der eigentlichen Messung nicht zu viel Zeit und erreichen schneller ein gutes Kalibrierungsergebnis.
Nach der Kalibrierung dürfen die Sensoren am Körper des Probanden in der Lage nicht mehr verändert werden, andernfalls werden falsche Messwerte erhoben bzw. falsche Reaktionskräfte berechnet. In einer unserer Messungen hat sich mutmaßlich der Sensor für den Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS) bei einer Tätigkeit mit extremen Rumpfvorbeugen verschoben, was jedoch erst in der Auswertung der Messergebnisse auffiel. Am Ende dieser Messung stand für uns die Erkenntnis, dass der bestmöglichen Sicherung der Sensoren am Körper des Probanden eine große Bedeutung zukommt. Im ungünstigsten Fall kann sonst die Notwendigkeit der Wiederholung einer Messung entstehen.
Letztlich muss für einen Messeinsatz mindestens ein halber Arbeitstag eingeplant werden. Damit sich dieser Aufwand lohnt, sollten daher pro Messtag mehrere (Teil-)Tätigkeiten analysiert werden.
Im Gegensatz zur aufwändigen Messdurchführung ist der Aufwand für die Auswertung der Messung gering. Das Auswertetool von IA erstellt aus den aufgenommenen Daten automatisch einen 10-seitigen Messbericht mit zahlreichen Statistiken, Tabellen und Diagrammen inklusive Bewertungen der Belastungshöhe nach dem Ampelprinzip, die einen umfassenden Überblick über die Belastung aller Körperregionen geben. Aufgenommene Streams lassen sich zu Erklärungs-, Demonstrations- und Unterweisungszwecken uneingeschränkt wiedergeben.
Das Messsystem INDUSTRIAL ATHLETE im Vergleich zur Anwendung der Leitmerkmalmethoden
Arbeitskräfte in jedem Alter fit zu halten und die Folgen der körperlichen Arbeit zu
entschärfen – dafür braucht es zielgerichtete Maßnahmen. Diese setzen die Kenntnis voraus, an welchen Stellschrauben sie ansetzen müssen. Seit Ende 2019 stehen dem „betrieblichen Praktiker“ zur Durchführung der Gefährdungsbeurteilung physischer Belastungen die erweiterten Leitmerkmalmethoden (LMM-E) zur Anwendung und Testung zu Verfügung. Wesentliches Merkmal der Anwendung einer Screening-Methode ist die subjektive Bewertung der Tätigkeit, insbesondere in Bezug auf die eingenommenen Körperhaltungen und die ungünstigen Ausführungsbedingungen, z. B. die Anhebung der Arme und Stellungen der Hände.
Hierbei können mehrere Bewerter für ein und dieselbe Tätigkeit zu unterschiedlichen Bewertungsergebnissen gelangen, da die Begriffe „selten“, „gelegentlich“, „häufig“ und „ständig“ nicht von jedem gleich eingeschätzt werden. Im Vergleich dazu liefert INDUSTRIAL ATHLETE für jedes belastungsrelevante Körpersegment objektive Messwerte der Winkelstellungen der Gliedmaßen und daraus resultierende Kräfte oder Momente. Mit diesen Werten lässt sich folglich auch die Qualität der Eingabedaten in die Formblätter der LMM-E steigern. In Bezug auf die Winkelstellungen der Arme und Handgelenke erlaubt IA eine wesentlich tiefergreifende Analyse der Arbeitsabläufe, da alle Freiheitsgrade der oberen Extremitäten ausgewertet werden.
Seit der Einführung der LMM-E sind im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung für physische Belastungen sechs verschiedene Belastungsarten unterscheidbar. INDUSTRIAL ATHLETE ist hingegen auf drei Aspekte der körperlichen Belastung spezialisiert: Kraft, Haltung und Wiederholung. Aus diesen Grundfunktionalitäten lassen sich Daten für alle sechs Formblätter der LMM-E erheben. Das Ziehen und Schieben von Lasten ist jedoch nicht direkt mit Industrial Athlete simulierbar, da die physikalischen Lasteinleitungen in den Körper bei dieser Belastungsart nicht im biomechanischen Modell verankert sind. Wichtig zu wissen ist auch, dass das biomechanische Messsystem keine Muskelaktivität messen kann, die einen Rückschluss auf das Maß an Kraftaufwendung bei einer Tätigkeit erlaubt. Stattdessen werden Kräfte und Momente auf die verschiedenen Körperregionen infolge der Rumpfbeugung und einer gehandhabten Last berechnet.
Die Auswertung im Vergleich
Sowohl die LMM-E als auch IA bewerten die körperliche Belastung der Tätigkeit mittels Punktwerten (Scores), die mit einem Risiko für eine Gesundheitsgefährdung für das Muskel-Skelett-System verknüpft sind und durch das Ampelsystem visualisiert werden. Im Detail unterscheiden sich die Auswertungen jedoch deutlich voneinander und können nicht direkt miteinander verglichen werden. Die LMM-E bewerten Belastungen durch Punktsummen immer innerhalb einer Belastungsart. Die Belastungsarten beanspruchen die Körperregionen in unterschiedlichem Maße. Hohe Punktwerte in einer Belastungsart stehen mit einem erhöhten Risiko für die Überbeanspruchung bestimmter Körperregionen in Zusammenhang. Bei INDUSTRIAL ATHLETE wird die Wirkung der Belastung auf den Körper direkt den Körperregionen zugeordnet und quantifiziert. Die Bewertungen fußen dabei auf unterschiedlichen Ergonomienormen (DIN, ISO, NIOSH) und der DGUV Information 208-033. Die Software erhebt bei der Analyse Belastungswerte für Kraft, Haltung und Wiederholungen und ein Summenmaß pro Körperregion an insgesamt sechs Körperregionen. Zudem erhebt sie einen Gesamtscore als gewichteter Mittelwert über alle Körperregionen.
Für die Erhebung der Höhe der körperlichen Belastung bei Tätigkeiten im Bereich der LH München haben wir aufgrund dieser unterschiedlichen Auswertungssystematiken immer beide Methoden parallel angewandt.
Bei vielen unterschiedlichen Tätigkeiten innerhalb einer Arbeitseinheit besteht bei der LMM die Schwierigkeit darin, ein Modell zu bilden, das diese komplexen Arbeitsabläufe auf einfach zu bewertende Teilvorgänge herunterbricht – getrennt nach Belastungsart. Bei der Anwendung des IA ist es dagegen möglich, beliebig lange zu messen, bis hin zu einer ganzen Arbeitsschicht. Da sich aus dem Gesamtergebnis aber keine konkreten Anhaltspunkte für die Verbesserungen der Arbeitsbedingungen mehr ableiten ließen, ist die Modellbildung über definierte Teilvorgänge auch beim IA erforderlich.
In der betrieblichen Praxis sind in vielen Bereichen, in denen körperlich schwer gearbeitet wird, Erleichterungen durch technische Hilfsmittel nicht oder nur begrenzt möglich. Die Belastungshöhe ist nicht beliebig an der Quelle reduzierbar. Ein Rückgriff auf organisatorische Lösungsmöglichkeiten zur Reduzierung der Belastung ist dann geboten – also eine zeitliche Eingrenzung der Tätigkeit. Wie lange kann die körperlich stark belastende Tätigkeit ausgeführt werden, bis der rote (oder gelbe) Risikobereich erreicht wird? Eine solche überschlägige Betrachtung ist unter Verwendung der Formblätter der LMM-E mit elektronischer Rechenhilfe möglich: Die „Zeitwichtung“ wird angepasst und dann die Veränderung der Gesamtbewertung beobachtet. Diese Art der Hochrechnung ist mit INDUSTRIAL ATHLETE nicht möglich.
Ein letzter, jedoch in der Praxis bedeutsamer Unterschied: Die LMM berücksichtigen bei allen relevanten Belastungsarten (Heben, Halten, Tragen, Ziehen, Schieben, Ganzkörperkräfte und Körperfortbewegung) die unterschiedliche Risikobewertung von Männern und Frauen bei gleicher Belastung. Bei IA gibt es keine Differenzierung der Risikobewertung zwischen Mann und Frau.
INDUSTRIAL ATHLETE verfügt über ein interessantes Alleinstellungsmerkmal: Es beinhaltet eine vollautomatische Ermittlung der Dosis der Bandscheibenkompressionskräfte im Lendenwirbelbereich* und liefert Vorhersagewerte, nach welcher Zeit in der Tätigkeit die tägliche Schwellendosis von z.B. 5,5 kNh (oder ein beliebiger anderer Wert) erreicht wird. Für den betrieblichen Arbeitsschutz spielt diese Funktion jedoch keine unmittelbare Rolle, da diese Werte, im Gegensatz zur Risikobewertung nach dem Ampelprinzip, keine Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Folge haben.
Voraussetzungen für Anwendende im Vergleich
Die Anwendung der LMM setzt eine gute Kenntnis der zu beurteilenden (Teil-)Tätigkeiten voraus, muss jedoch nicht zwingend von Arbeitsschutz- bzw. Ergonomieexperten durchgeführt werden. Die Beteiligung der Fachkraft für Arbeitssicherheit und ggf. des Betriebsarztes ist jedenfalls ratsam.
Aufgrund der Komplexität des IA und dessen weitreichenden Auswertemöglichkeiten gehört dieses dagegen in die Hände von Arbeitsschutzexperten. Zur Minimierung von Anwenderfehlern und für die vorbereitenden Tätigkeiten sollte das Team großzügig Zeit einplanen. Eine Spezialisierung auf die Anwendung eines biomechanischen Messsystems kann ebenfalls zweckmäßig sein.
Unser Fazit über die Anwendung des IA im Vergleich
Nach unserer Auffassung kann IA die Anwendung der LMM nicht ersetzen, sondern sinnvoll ergänzen und in speziellen Fällen vertiefende Informationen bereitstellen. Eine wesentliche Vereinfachung der Durchführung der Gefährdungsbeurteilung physischer Belastungen können wir durch die Anwendung des biomechanischen Messystems nicht feststellen. Die grundsätzlichen Überlegungen zur Zerlegung komplexer Tätigkeiten in einfach zu bewertende Teiltätigkeiten bleiben dieselben, wie bei Anwendung der LMM. Der dabei entstehende Aufwand ist für beide Methoden identisch. IA ist als alternative Methode zur Beurteilung und Dokumentation der Arbeitsbedingungen zu sehen, die anderen Bewertungsmaßstäben folgt als die LMM. Die effiziente Anwendung des biomechanischen Messsystems erfordert regelmäßige Messeinsätze. Ohne ausreichende zeitlich/personelle Ressourcen sollte als Alternative zur Anschaffung eines biomechanischen Messsystems eher über den Einkauf einer Beratungsleistung mithilfe des Systems nachgedacht werden.
IA eignet sich nach unseren Erfahrungen besonders als Feedback-System für die Probanden und als Hilfsmittel für die Unterweisung. Die Live-Anzeige von Belastungen in den verschiedenen Körperregionen in Abhängigkeit der Körperhaltung hat eine hohe Sensibilität für eine rückenschonende Arbeitsweise bei unseren Probanden erzeugt. Bilder sagen auch in der Unterweisung mehr als mahnende Worte.
Autor: Robert Havlik, Fachkraft für Arbeitssicherheit bei der LH München
*nach dem Mainz Dortmunder Dosismodell
Vergleich von Analyseergebnissen von INDUSTRIAL ATHLETE mit denen der erweiterten Leitmerkmalmethoden anhand von zwei Beispielen aus unseren Messungen:
Anhand zweier Beispiele unserer Messungen werden die Ergebnisse der Bewertung mit den LMM-E und IA miteinander verglichen. Aufgrund der Art der Kraftaufwendung bei den betrachteten Tätigkeit wurden diese mit den LMM-E für Heben, Halten und Tragen (LMM-HHT-E) und für Ganzkörperkräfte (LMM-GK-E) bewertet.
Beispiel 1
Tätigkeit: Unkraut ausstechen mit einer Grabgabel und manuelles Auslesen
Dauer der Tätigkeitssequenz: 7,5 Minuten
Last: 14 kg (= durchschnittliches Gewicht des Erdklumpens und der Grabgabel)
Häufigkeit: 27 Hebevorgänge
Kritisch hinterfragen
In diesem Beispiel unterscheiden sich die Ergebnisse der beiden in Betracht kommenden LMM deutlich voneinander. Die Anwendung der LMM-HHT-E liefert für Männer einen ca. 67% höheren Belastungswert als bei Anwendung der LMM-GK-E. Für Frauen beträgt der Unterschied sogar über 300%. Dies liegt insbesondere an der unterschiedlichen Wichtung der Last von 29 kg in beiden Methoden, die bei der LMM-HHT-E einen größeren Einfluss auf das Gesamtergebnis hat als bei der LMM-GK. Die LMM-HHT-E liefert eine ungünstigere Bewertung des Risikos infolge der Belastung und ist daher für die Gefährdungsbeurteilung maßgeblich.
Der Gesamtscore von IA liegt im Übergangsbereich zwischen dem gelben und roten Risikobereich. Damit entspricht die Risikoeinschätzung von IA der, die die LMM-HHT-E für Männer errechnet. Die Einzelauswertung der Körpersegmente in IA ergibt eine sehr starke Belastung des Bereichs LWS, der Schulter, sowie der Hände. Nach dem biomechanischen Rechenmodell sind die Knie eher moderat belastet, was jedoch bei Pflastertätigkeiten, die im Knien ausgeführt werden, nicht stimmig ist. Dieses Beispiel zeigt sehr gut, dass trotz modernster Technik ein kritisches Hinterfragen von Ergebnissen erforderlich ist.