Das 100-jährige Jubiläum der ersten Berufskrankheiten-Verordnung war Anlass für eine Interviewserie der DGUV. Die Gespräche mit Fachleuten beleuchten unterschiedliche Aspekte des Berufskrankheitenrechts und werden bis zum Herbst einmal monatlich erscheinen. Aktuell ist nun der zweite Teil der Serie online:
Fred Zagrodnik, Leiter der Abteilung Berufskrankheiten bei der DGUV, gibt im Interview zum Thema Individualprävention Einblicke in ein komplexes, aber zentrales Instrument der Prävention.
„Ob und welche Maßnahmen der Individualprävention sich für bestimmte Beschäftigte eignen, hängt von der Wirkung und von den Erfolgsaussichten ab“
Nicht jede beruflich bedingte Erkrankung lässt sich durch allgemeine Schutzmaßnahmen verhindern. Hier kommt die sogenannte Individualprävention ins Spiel: ein gezielter Ansatz der gesetzlichen Unfallversicherung, um einzelne besonders gefährdete Personen vor dem Ausbruch oder der Verschlimmerung einer Berufskrankheit zu schützen. Doch was genau bedeutet das in der Praxis? Welche Erkrankungen sind betroffen und wer trägt die Kosten für die Maßnahmen? Fred Zagrodnik, Leiter der Abteilung Berufskrankheiten bei der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), gibt im Interview Einblicke in ein komplexes, aber zentrales Instrument der Prävention.
1. Herr Zagrodnik, was genau versteht man unter Individualprävention?
Mit individualpräventiven Maßnahmen wirkt die gesetzliche Unfallversicherung der Gefahr entgegen, dass bei einer einzelnen Person eine Berufskrankheit entsteht, wiederauflebt oder sich verschlimmert. Das setzt voraus, dass bei dieser Person bereits erste Krankheitsanzeichen vorliegen. Im Vergleich zu ihren Kolleginnen und Kollegen besteht bei dieser Person bereits ein konkretes, individuell erhöhtes Risiko einer Berufskrankheit, wenn sie die versicherte Tätigkeit weiterhin ausübt, ohne das Gefährdungspotenzial zu vermeiden oder zumindest zu verringern.
2. Auf welche Krankheiten beziehen sich individualpräventive Maßnahmen beispielsweise?
Individualpräventive Maßnahmen kommen theoretisch bei allen Berufskrankheiten in Betracht. Davon gibt es derzeit 85, die in der Berufskrankheitenliste aufgeführt sind. Praktisch gibt es aber Einschränkungen, zum Beispiel weil einige frühere gesundheitsgefährdende und in der Berufskrankheitenliste genannte Einwirkungen nicht mehr vorkommen, da sich Arbeits- oder Herstellungsprozesse geändert haben. Oder die Erkrankung tritt erst lange nach der Einwirkung, einer sogenannten Latenzzeit, auf. Bei der Asbestose ist das beispielsweise der Fall.
Außerdem gibt es Berufskrankheiten, bei denen sich kein individuell erhöhtes Erkrankungsrisiko der jeweiligen Person identifizieren lässt. Dafür ist Covid-19 als Infektionskrankheit im Sinne der Nummer 3101 der Berufskrankheitenliste ein noch relativ aktuelles Beispiel: Zwar lassen sich Arbeitsbereiche oder -verhältnisse mit besonders hohen Infektionsrisiken identifizieren, beispielsweise auf einer bestimmten Station im Krankenhaus. Es lassen sich in diesem Fall aber schwerlich einzelne Personen benennen, die im Vergleich zu allen anderen Kolleginnen und Kollegen unter den gleichen Arbeitsbedingungen besonders gefährdet sind. In diesem Beispiel kommt vor allem der Primärprävention eine besondere Bedeutung zu. Diese ist – anders als die Individualprävention – auf alle Beschäftigten und generelle Gesundheitsgefahren am Arbeitsplatz ausgerichtet.
3. Wer kommt für die Kosten auf?
Die Kosten der gerade beschriebenen Primärprävention für alle versicherten Personen in gefährdenden Arbeitsbereichen tragen die Unternehmen. Das ist bei der Individualprävention anders. Für diese kommt die gesetzliche Unfallversicherung, also die jeweilige Berufsgenossenschaft oder Unfallkasse, auf. Dazu zählen einerseits die Aufwendungen für die Verhältnisprävention, also die Anpassung der Arbeitsbedingungen, die ein potenzielles Risiko darstellen können. Das kann beispielsweise bedeuten, dass Arbeitsstoffe ausgetauscht werden, von denen konkrete Gesundheitsgefährdungen für die einzelne Person ausgehen. Andererseits zählen dazu auch Maßnahmen der Verhaltensprävention, die auf das Anpassen von Arbeitsprozessen und auf das individuelle Verhalten der Beschäftigten abzielen, zum Beispiel das Tragen bestimmter, auf den individuellen Hauzustand der einzelnen Person angepasster Schutzhandschuhe.
4. Wer bestimmt denn, welche Maßnahmen der Individualprävention geeignet sind – die Versicherten oder die Unfallversicherungsträger?
Ob und welche Maßnahmen der Individualprävention sich für die jeweiligen Beschäftigten eignen, hängt von der Wirkung und von den Erfolgsaussichten ab. Um das abschätzen zu können, sind verschiedene Kenntnisse erforderlich. Daher lässt sich die Frage nicht eindeutig und für alle Fälle einheitlich beantworten. In der Regel können auf medizinischem Gebiet die behandelnden Ärztinnen und Ärzte und auf technischem und arbeitsorganisatorischem Gebiet die Präventionsfachleute der Unfallversicherungsträger erkennen, welche Maßnahmen im Einzelfall wirksam und damit erfolgversprechend sind. Auch Gewerbeärztinnen oder -ärzte können mit ihren Kenntnissen gegebenenfalls im Einzelfall unterstützen. Für die versicherten Personen gibt es eine gesetzliche Mitwirkungspflicht bei zumutbaren Maßnahmen der Individualprävention.
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